Momentaufnahmen bei Sonnenuntergang

Na gut, ich tippe ja schon! Ein Post-Kernkraft-GAU-Szenario gehört in jedes Repertoire.

Draußen wird es dunkel, die Fensterscheibe ist ganz blau, wird langsam schon schwarz. Nur wenig könnte Mirko sehen, wenn er nachher noch einmal vor die Tür ginge. Natürlich weiß jedes Kind, dass es nicht wirklich dunkel wird, auch niemals wirklich hell, aber der Tagesrhythmus ist eine wichtige Konstante. Draußen, im anderen “Draußen”, werden Tag und Nacht genauso ablaufen. Das Fenster ist jetzt fast völlig finster. Mirko dreht sich zum Spieltisch, streckt einen Arm aus und schiebt die Malfarben beiseite. “Ich will jetzt einen Brief nach draußen schreiben”, sagt er zu der leeren Fläche. “An den Wart”, fügt er hinzu. Schon leuchtet ein weißes Viereck auf, sein Briefpapier. Der Wart spricht mit allen Kindern. So richtig vorstellen konnte Mirko sich das noch nie. Jeder weiß, dass der nette, ältere Herr in der Welt der Erwachsenen lebt, dass er jeden Tag herum geht und prüft, ob alle Kinder gesund sind, das Trinkwasser auffüllt und den Brotverbrauch kontrolliert. Wie er selbst in zwei Welten gleichzeitig sein soll, versteht Mirko noch nicht so ganz. Aber das wird schon noch kommen mit der Zeit, er ist ja erst Sieben und muss noch elf Jahre zur Schule gehen. Die Schule ist draußen, im normalen “Draußen”, gleich hinter dem Park. “Lieber Jugendwart”, beginnt er zu diktieren, “ich habe schon wieder eine neue Idee. Wenn ich einmal groß bin und in die Außenwelt komme, dann werde ich Gärtner und lege hundert Parks an, ganz so wie den vor dem Haus. Aber das ist noch so lange hin, noch länger als das zehnte Schuljahr. Anja hat gesagt, dass es bei euch draußen zu viel Radioaktivität dafür gibt. Kannst du mir erklären, was das ist? In der Schule kommt Radioaktivität erst in der zehnten Klasse dran. Das Wort klingt lustig, Radios machen Musik. Aber was hat es mit meinem Garten zu tun?”

Fast von selbst fliegen Katinkas Finger über die langen Saiten der Harfe, wie Ketten aus Kristallperlen scheint die Melodie durch den leeren, hell erleuchteten Saal zu schweben. Sie spielt, um ihre Finger zu beschäftigen. Bald wird sie alles wieder neu üben müssen, doch daran möchte sie heute nicht denken. In zwei Wochen ist ihr Achtzehnter Geburtstag, anderthalb Monate später endet das Schuljahr. Bei diesem Gedanken verspielt sie sich, doch sie kümmert sich nicht darum, schließlich hört niemand zu. Noch zwei Monate in der Kinderwelt, dann wird man sie aufwecken, die winzigen Bildschirme von ihren Augen nehmen, die Kopfhörer von den Ohren ziehen und ihren realen Körper aus der Simulator-Haut pellen. Das Musikzimmer duftet nach altem Holz, es duftet so überzeugend, dass es Katinka schwer fällt zu glauben, dass der Geruch nur aus einem Aroma-Röhrchen in ihrer Nase stammt. Das Leben ist ein Tagtraum, in Theorie hat sie es längst begriffen. Ihre Harfe ist ein Bild in dem Videospiel, das aus jedem Saitenanschlag einen glasklaren Klang berechnet und in ihre Ohren schickt. Mikrospitzen in der Kunststoffhaut stellen sich kurz auf, um sie Metall an ihren Fingerspitzen spüren zu lassen. Draußen wird jede Berührung real sein, scharfe Kanten werden ihre Finger verletzen können, sie wird aufpassen müssen. Aber das muss jeder, so schlimm kann es nicht sein. Katinka hat keine Angst vor der Wirklichkeit. Echt nicht. Nicht wirklich.

Ein Blick auf die Uhr über dem breiten, silbernen Tor - knapp eine Stunde vor Dienstschluss. Sanfte Beleuchtung füllt Schlafsaal 94b, als der Jugendwart seinen letzten Rundgang beginnt. Auf hundert Metern reihen sich breite, flexibel bewegliche Liegen auf, in zwei Reihen bis zum hinteren Tor. Neben jeder davon steht ein kleines Bild. Der Wart schlendert an den Kinderbetten entlang, schaut auf die Schilder mit Alter und Name, tauscht hier und da einen Trinkwasser-Anschluss aus. Herrlich friedlich ist es hier unten. Die Schutzhöhle im Berg zählt zu den wenigen Orten, denen man sein Kind noch anvertrauen kann. Alte Erinnerungen gehen dem Wart durch den Kopf, alle stammen aus dieser Welt, denn zu seiner Zeit konnte man noch bei seinen Eltern aufwachsen. Seit der Kernschmelze ist das natürlich undenkbar, Europa ist viel zu gefährlich für kleine Kinder. Deshalb leben sie gut abgeschirmt hier drinnen, in einer fast heilen Umgebung. Nicht in einer perfekten Welt, sonst wäre später die Umgewöhnung zu hart. Unter der schwarzen Simulator-Folie sehen alle gleich aus, sind nur verschieden groß. Das älteste Mädchen liegt weiter vorne an der linken Seite der Halle. Dort bleibt der Wart stehen, prüft die medizinischen Statusanzeigen und registriert zufrieden, dass sie auf die bereits langsam reduzierte Dosierung gut reagiert. Das Medikament, das Europas Jugend in ihren stabilen, bewegungslosen, aber dennoch hellwachen Zustand versetzt, wird im achtzehnten Lebensjahr schrittweise abgesetzt, so dass sie aufwachen und nach einem Trainingsjahr im Aufbau-Center fit für das wirkliche Leben sind. Das Bild neben jeder Liege zeigt ein Porträt der Schläfers, wie es die taktilen Sensoren unter der Folie in Echtzeit ermitteln. Eine Weite lang schaut der Wart das junge Gesicht an, dann hinterlegt er eine private Notiz für die Kollegen aus dem Aufbau-Center. “Behaltet sie etwas länger da, sie sollte auch gleich Karate lernen.” Bewegungen unter der schwarzen Hülle deuten leicht zuckende Finger an, die Jugendstarre lässt schon ein wenig nach. Was tut sie gerade, das ihre Hände so fordert? Der Wart zieht einen Computer aus seinem Arbeitskoffer, lässt die Übersichtskarte der Kinderwelt anzeigen und tippt ihre Registriernummer ein. Daraufhin fokussiert das SimSupervisorTool ein Haus und vergrößert darin das Zimmer, in dem Katinka vor einer Harfe sitzt und übt. “Das wird dauern”, denkt er und klinkt sich wieder aus. “Als wäre es nicht anstrengend genug, auf echten Beinen neu laufen zu lernen.”

Glitzernde Abendsonne tanzt auf dem Teich des Schulgartens, am Ufer steht Robert und fegt sich den Sand von der Hose. “Es wird spät, ich bring dich jetzt besser nach Hause.” Lächelnd streckt er seiner kleinen Schwester die Hand entgegen. Auf dem Weg durch die Wohnsiedlung kommen sie an einem leeren Fenster vorbei. Neulich wohnte hier noch Thomas, der letzte Woche erwachsen geworden ist. Bald wird man dort das Kindermädchen sehen können, wie es sich um einen Neuzugang kümmert. “Du gehst auch bald fort, nicht wahr?” Ihr Bruder schaut auf sie herab und lächelt wieder. “Natürlich, darüber haben wir doch schon hundertmal geredet. Ich rufe dich jeden Tag an und erzähle von draußen, versprochen.” Obwohl du eh schon den halben Tag an quasseln bist, denk er insgeheim. Steffi telefoniert jede Woche mit ihren Eltern, sie lässt sich sogar stapelweise Fotos von der Außenwelt schicken. Im richtigen Haus angekommen, verabschiedet Steffi sich und rennt den langen Flur zu ihrer Tür entlang. Jedes Kind hat nur ein Zimmer, in dem es achtzehn Jahre lang wohnt. Schon klar, überlegt Robert, während er die Treppe hinauf steigt, wir sollen uns gar nicht erst an Platz gewöhnen, sonst fühlen wir uns draußen eingesperrt. Er weiß alles über das Europa der Erwachsenen. Alles, was man aus der Ferne lernen kann. Irgendwie freut er sich darauf, es endlich zu sehen, auch wenn er sich ein wenig unsicher fühlt.

Anderthalb Stunden nach Dienstschluss sitzt der Wart noch im Büro und arbeitet seine Post ab. Wie jeden Tag, sind einige Briefe aus den Schutzhallen dabei. Seltsam findet er das, obwohl er sich über die Jahre daran gewöhnt hat. Die Kinder können dreimal pro Woche mit ihren Eltern telefonieren und Briefe in die ganze Welt schicken - und trotzdem schreiben sie immer wieder ihm. Vielleicht, weil ich realer wirke, denkt er vor seinem ruhig leuchtenden Bildschirm. In der Schule lernen sie, wie weit die Erwachsenen weg sind, mit denen die alle paar Tage sprechen können. Ich dagegen bin jeden Tag hier und kontrolliere die multimedialen Simulatoren. Sie sehen mich nie, sie hören mich nie, aber im Schulbuch steht eben, dass ich immer da bin. Noch einmal schaltet er zur Übersichtskarte um. Die Kinderwelt ist ein einziges Videospiel, ein “Multiplayer Online Role Play Game” mit Ein- und Ausgabe für alle Sinne. Das Leben ist zu kompliziert geworden, denkt er wiedermal. Jahrelang muss man lernen, darin zurecht zu kommen. Zu meiner Zeit gab es keinen Simulator und wir haben trotzdem überlebt, brauchten nur den Großen alles nach zu machen … ein Klopfen an der Tür, ein Blick auf die Uhr, jetzt wird es aber wirklich Zeit. Die Psychologin aus dem Aufbau-Center wartet schon am Fahrstuhl zur Tiefgarage auf ihn. Im dämmrigen Neonlicht des verlassenen Parkplatzes schließt er den Panzerwagen auf und lässt sich auf den Fahrersitz fallen. Juliana tippt ihre Hälfte des Freischaltcodes ein, er vervollständigt das Kennwort, schon rollt das Auto an und steuert auf die Ausfahrt zu. Niemand darf mehr allein einen Dienstwagen fahren, man könnte zu leicht überfallen werden. So tauchen sie jeden Morgen in Fahrgemeinschaften durch die graue Stadt bergauf, abends durch die schwarze Stadt wieder bergab. Die Klimaanlage pumpt beständig neuen Sauerstoff in die verbrauchte Luft, der schwere Bleipanzer schützt die Insassen vor Strahlung und die bruchsichere Windschutzscheibe vor Straßenräubern.

Hinter ihnen, tief im Berg verborgen, packt eine junge Frau ihre wenigen Sachen in einen dunkelgrünen Koffer. Der Spätschicht-Betreuer klopft an, tritt ungefragt ein und legt einen Notizzettel auf den Tisch. “Morgen um zehn Uhr holen deine Eltern dich ab”, erklärt er aufmunternd. “Na, wie fühlt man sich so, auf dem Weg ins Leben?” “Irgendwie komisch”, antwortet sie leise und setzt sich auf den Koffer, um ihn zu schließen. “Wie soll ich denen beibringen, dass ich gar nicht lange bleibe?” “Geht’s in die Kolonien?” “Ja, die Kolonien. Wieso sollte ich die Erde retten? Ich hab sie nicht kaputt gemacht.” “Hast du eine Zusage?” “Klar, hab sie gestern bekommen.” Noch weiter hinter dem Panzerwagen, hinter dem Berg, hinter dem Horizont, auf der anderen Seite der längst untergegangenen Sonne, steht ein Bürgermeister am Panorama-Fenster und sonnt sich im Glanz seines wachsenden Dorfes. Reiner Luftdruck hält die transparente Kuppel aufrecht, unter der sich Hütten und Höfe ausbreiten, spiralförmig rings um die Umweltkontrollen im Zentrum. Erste Wildpflanzen graben ihre Wurzeln in den roten Sand, willkommene Ausbrecher aus den frisch erweiterten Gewächshäusern. Die Wüste lebt, sagt er still zu sich selbst, kürzer kann man es nicht beschreiben. Seine Marskolonie ist keineswegs die Größte, doch inzwischen wächst sie genauso rasant wie die anderen Neun. Die letzten fünfzig Plätze, die er freigegeben hatte, waren innerhalb eines Tages vergeben. Manchmal denkt der Bürgermeister, dass sie der Erde eine ganze Generation stehlen. An anderen Tagen findet er, dass sie jedem Menschen etwas stehlen, den sie nicht beim ersten Antrag aufnehmen können.

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