Generationenvertrag

Die alte Dame beugte sich tief über den Schreibtisch. Tippte Sätze ein, löschte sie wieder. Leblose Augen überflogen Fachjournale, versanken wieder in Gedanken. Zur Mittagspause besuchte eine Pflegerin sie am Arbeitsplatz, um ihr Medikamente zu bringen. Die alte Dame drehte sich gelangweilt um.

“Sparen sie sich die Spritzen”, murrte sie leise, “ich finde nie im Leben eine Lösung. Es hat keinen Zweck.”

Die Pflegerin lächelte lieb und füllte routiniert die Tagesdosis ab. “Wie alt sind sie, 150 Jahre, ja?”

“Ja, nächste Woche werde ich 151. Es reicht.”

Vor knapp 80 Jahren war die Therapie erfunden worden, die das Altern bremsen konnte. Mit der optimalen Behandlung behielt man sein biologisches Alter und lebte unbegrenzt lang. Es hätte ein Durchbruch für die damals Gesunden werden können.

“Aber sie müssen doch leben, Frau Müller”, lächelte die junge Pflegerin, “so viele Probleme sind noch ungelöst. Wir brauchen unsere Eltern!”

Seufzend ließ sie sich das Mittel verabreichen, mit dem seit ihrem halben Leben der Generationenvertrag durchgesetzt wurde. Die Jugend hatte ja Recht! Wieder fiel ihr Blick auf den regenbogenfarbenen Schriftzug, dessen fröhlich bunte Buchstaben Stück für Stück vom Fensterrahmen abbröckelten:

Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Enkeln geliehen.

Was für eine abgedroschene Phrase! Doch die Enkel weigerten sich zu Recht, ihr marodes Erbe anzutreten. Es gehörte sich nicht, sein Leben ins Saus und Braus zu verbringen und alle Folgeschäden der nächsten Generation aufzubürden.

“Danke, ich gebe mir wirklich alle Mühe”, antwortete sie müde, “aber am Mikroplastik forsche ich seit 20 Jahren, mir fällt echt nichts Neues mehr ein. Können sie mich nicht in ein anderes Fach versetzen, vielleicht zum radioaktiven Müll?”

“Sie sind seit 20 Jahren eine echte Expertin!” Ihr Lächeln ging in ein motivierendes Strahlen über. “Wenn Sie keine Lösung für das Kunststoffproblem finden, dann findet sie niemand!”

“Vielleicht ein frischer Geist mit neuen Ideen.”

“Ach was! Wir haben unsere eigenen, neuen Probleme zu lösen. Mit ihren alten Fragen werden sie schon fertig werden. Kommt Zeit, kommt Rat!”

Zeit kam im Überfluss. Zu gern wäre sie zurück ins Team Waldsterben gegangen, aber man hatte es aufgelöst, als die Wälder wieder groß und gesund waren. Danach hatte sie am Ozonloch geforscht, bis es fort war. Sie hatte Kaffee für die gesünderen Alten gekocht, als sie die Flurbereinigung rückgängig machten und alle Feldvögel wieder ansiedelten. Und es war gut. Die Welt hinter dem Fenster sah fantastisch aus, duftete rosig und schwirrte vor Leben. Jeden Abend ging jemand mit ihr hinaus, am Wochenende machte das Altenheim einen Ausflug. Regelmäßig, seit mindestens 50 Jahren, immer wieder dasselbe.

“Ach, wissen sie”, wandte sie sich erneut an die Pflegerin, “viel besser als in der Chemie könnte ich mich im Bereich Radioaktivität einbringen. Damit hatte ich bisher kaum zu tun, ich könnte noch ein paar Ideen finden.”

“Sie möchten noch mal was Neues anfangen?”

“Ja, vielleicht hier raus, ins Wendland ziehen, direkt vor Ort forschen.”

Hier bröckelte der Putz von den Wänden; es war höchste Zeit zu gehen. Zeit war ja kein Problem. Zeit war ein lästiger Schwarm von Fliegen, welche es längst auch wieder in Massen gab. Das Wichtigste im Leben war, der nächsten Generation keine unlösbaren Lasten zu vererben, deren Nutzen man alleine genossen hatte. Die Enkel würden sie nie sterben lassen, bevor die Welt gut genug zur Rückgabe war.

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